Tag 22: Zeit für eine Halbzeitbilanz
26. Juni 2010
Es ist Freitag nachmittag, 25. Juni, zehn nach halbvier. Es schreibt: Schächtele, der auf der Terrasse unserer Unterkunft in Port St. Johns sitzt, einem kleinen Nest etwa dreihundert Kilometer südlich von Durban. Frey treibt sich gerade auf einem Felsen am Indischen Ozean herum, er ist von hier aus nur als Silhouette am Horizont zu erkennen. Den Ort, an dem ich im Moment sitze, muss man sich vorstellen wie den Hochsitz über dem Paradies: Linkerhand zieht sich eine moosgrüne Bergkette bis zum Meer, direkt um mich herum ragen Palmwedel ins Bild, aus der Ferne dringt das Rauschen der Wellen zu mir nach oben und etwa zwei Finger breit vor Freys Felsen mümmelt eine Kuhherde auf dem warmen Strandsand herum. Wenn das nicht ideale Voraussetzungen sind für eine Halbzeitbilanz.
Heute vor drei Wochen sind wir in Kapstadt gelandet. Wir haben seitdem Menschen kennengelernt, die sich vergeblich eine kühle Winternacht um die Ohren geschlagen haben, um an Tickets für die Spiele zu kommen, wir standen während des Eröffnungsspiel neben Menschen, die nach dem zauberhaften Tor von Tshabalala zu weinen begonnen haben, wir haben Menschen im Township besucht und uns unsererseits von ihrer Freundlichkeit und Gastfreundschaft verzaubern lassen. Wir haben auf unserer Reise bislang genau 1263 Kilometer zurückgelegt, das sind bei den hiesigen Straßenverhältnissen 19 Stunden und fünf Minuten. Wir wissen das deshalb so genau, weil uns Katrin und Kurt, ein befreundetes Paar aus Kapstadt, ihr Navigationsgerät überlassen haben, ohne das wir in der Ödnis zwischen Kapstadt und hier oft ganz schön alt ausgesehen hätten. Und jetzt also Port St. Johns, ein kleines Städtchen direkt am Meer, in dessen unzähligen Hügeln sich bunte Hütten zwischen Palmen verstecken und in dem neben den Einheimischen, nahezu alle schwarz, Aussteiger wohnen, so gut wie alle weiß. Die riechen zum Teil so sehr nach Marihuana, dass man glauben könnte, sie hätten ihre Grasplantagen direkt in ihren zauseligen Vollbärten angelegt. Nach dem Deutschlandspiel am Mittwoch haben wir aber auch die entzückende Hellen kennen gelernt, eine Schottin von 68 Jahren, deren Sohn vor ein paar Jahren hierher zog, um als Lehrer zu arbeiten, gefolgt von ihrer Tochter, die mit einem Xhosa-Mann ein Kind zur Welt gebracht hat. Im vergangenen November reiste Hellen dann zurück nach Schottland, verkaufte ihr ganzes Leben und zog nach Südafrika. Das rauchige Lachen, das genauso nach schottischem Hochland wie nach erdigem Whiskey klingt, wird uns noch lange in Erinnerung bleiben.
Als wir Deutschland verließen, lautete das Ziel unserer Mission, Menschen zu treffen, die uns einen Einblick in den Charakter dieses Landes gewähren, die Fußball-WM ist gewissermaßen der Zugangscode. Wir haben uns mit Einheimischen darüber unterhalten und mit denjenigen, die auf Besuch hierher gekommen sind. Vereinzelt waren auch WM-Touristen darunter, sogar Deutsche. Am Vorabend des zweiten Gruppenspiels waren wir zum Beispiel auf eine Gruppe gestoßen, die gewissermaßen auf WM-Safari war: Deutschland-Australien, Krüger-Park, Garden Route, Deutschland-Serbien, Johannesburg, Deutschland-Ghana, heim. Nein, sagte uns einer, er habe sich zu keiner Sekunde unsicher gefühlt, nur unorganisiert. Bei der WM 2006 seien die Stadionbesuche ein bisschen straffer gelaufen. Um seinen Teil zum Gelingen der Safari beizutragen, hatte er extra seine schwarz-rot-goldene Boxershort im Gepäck, die habe auch vor vier Jahren schon Glück gebracht. Es müsste mal jemand Joachim Löw Bescheid sagen, dass seine Jungs im Achtelfinale ohne die Unterstützung von unten auskommen müssen: Die Boxershort ist samt Reisegruppe nach dem dritten Vorrundenspiel abgereist.
Ja, es sind WM-Touristen im Land. Im Jungle Monkey zum Beispiel, einem Backpacker hier in Port St. Johns, saß während des Deutschland-Ghana-Spiels eine Familie aus Kolumbien neben uns, in Kapstadt haben wir Fans aus Italien gesehen und im Fernsehen Deutsche, die in Port Elizabeth noch neben uns im Stadion gesessen hatten und in Johannesburg den Sieg über Ghana bejubelten. Fährt man allerdings über Land von einem Ort zum anderen, sieht man keinen einzigen von ihnen. Die WM findet nur in den Großstädten statt, die Fans fliegen lieber. Weil wir uns dagegen vorgenommen haben, uns jeden Kilometer dieser Reise zu erarbeiten, kommen wir in den Genuss von LKW-Fahrern, die zu halsbrecherischen Überholmanövern ansetzen, und von blutigen Kühen, die am Straßenrand liegen und solche Manöver nicht überlebt haben. Wenigstens haben wir so genug Zeit, auch literarisch voranzukommen: Während unserer stundenlangen Überfahrten sitzt der eine am Steuer und der andere liest vor, im Moment aus „Die Entdeckung des Himmels“ von Harry Mulisch. Da sage noch einer, so eine Fußball-WM sei nichts für den Kopf.
Und wie wird die zweite Halbzeit unserer Reise aussehen? Am Wochenende machen wir uns erstmal auf den Weg nach Durban, um herauszufinden, wie die Südafrikaner nach dem Ausscheiden ihrer Mannschaft mit dieser WM umgehen. Im Moment wird eine herrlich pathetische Diashow per Email durchs Netz geschickt, deren Botschaft lautet: „It does not matter we did not qualify. What matters is: Our team inspired us all. What started as a game, is becoming something more. Let´s not stop now. We have opened our hearts to each other, now let´s open them to the world.“ Es ist der Aufruf, jetzt eben eine andere Mannschaft zu unterstützen als die südafrikanische. Mal sehen, für wen sich die Südafrikaner mehrheitlich entscheiden werden. Nur eines ist sicher: Es wird nicht die serbische sein. Als wir nach der Niederlage gegen Serbien vor dem Stadion herumstanden, hörten wir einen serbischen Fan noch rufen: „Deutschland, du hast eine haarige Fotze.“ So bleibt am Ende dieser Bilanz nur noch eine Frage: Und, Gruppenletzter, was hast du?
Waren wir damals nicht auch im Jungle Monkey? Danke für die schönen Gschichtn. Nik
Mein lieber Nik, doch, genau da waren wir. Und: bitte sehr, gern geschehen.